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Nadja Nitsche
Warum (auch Auslands-)Germanisten DOCH Wolfram lesen sollten
Lektüreempfehlungen: Mittelalterliche Literatur
ARGUMENTE: Wer ist überhaupt Wolfram? - Um es gleich vorweg zu sagen... - Argumente gegen Sprachgeschichte und Mediävistik... - Auch in literarischer Hinsicht... - Und schließlich das letzte...
LINKS: Als kleine erste Einstiegshilfe... (Althochdeutsch - Altniederdeutsch [Altsächsisch] - Mittelhochdeutsch - Frühneuhochdeutsche - Deutsche Literaturgeschichte des Mittelalters - Deutsche Sprachgeschichte - Gotisch - Mediävistik in In- und Auslandsgermanistik)
Dieser Text ist die um Links erweiterte Version des Textes, der unter dem Titel "Lesezeichen. Literaturkolumne. Warum (auch Auslands-)Germanisten DOCH Wolfram lesen sollten" in der Ausgabe Nr.12 / Diciembre 2002 des "mAGAzins" der Asociación de Germanistas de Andalucía [AGA] erschienen ist.
Erschienen: 26. Januar 2003
Empfohlene Zitierweise:

Nadja Nitsche: Warum (auch Auslands-)Germanisten DOCH Wolfram lesen sollten. Lektüreempfehlungen: Mittelalterliche Literatur (26. Januar 2003), in: g-daf-es <http://www.g-daf-es.net/lesen_und_sehen/lese/nn3.htm>.

Bitte setzen Sie beim Zitieren dieses Beitrags hinter die URL-Angabe in runde Klammern das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse.

I.
Wer ist überhaupt Wolfram? Es gibt Stimmen, die behaupten, er sei der beste Dichter deutscher Zunge; eine große Mehrheit aller Leser deutschsprachiger Literatur aber hat den Namen vermutlich nie gehört. Ein echter Geheimtipp also, ebenso wie Otfrid, Walther, Hartmann oder Heinrich Wittenwiler.

Nun wird das Studienfach Germanistik im In- und Ausland (leider!) von den wenigsten Teilnehmern als eine Wissenschaft verstanden, die sich schwerpunktmäßig mit dem Aufspüren von Geheimtipps befasst. Dennoch stellt die Beschäftigung mit den genannten Autoren und einigen mehr aus dem 8. bis 16. Jahrhundert sowie mit ihrer Sprache an vielen Universitäten (sowohl in deutschsprachigen wie nicht-deutschsprachigen Ländern) einen nicht geringen Anteil am Germanistikstudium dar. Dafür gibt es gute Gründe (die Tradition des Faches; die einschlägige Ausbildung der Lehrenden), und es könnte und sollte, so finde ich, noch bessere geben.

II.
Um es gleich vorweg zu sagen: Natürlich sollte die Beschäftigung mit mittelalterlicher (und frühneuzeitlicher) Sprache und Literatur nicht auf Kosten anderer Aspekte eines Germanistikstudiums gehen; und natürlich ist das Studium des Mittelhochdeutschen und Althochdeutschen wenig sinnvoll (und auch wenig erfolgversprechend), wenn nicht solide Kenntnisse der Gegenwartssprache vorhanden sind. Allerdings ist das notwendige Erlernen der Sprache ohnehin eine zusätzliche Schwierigkeit eines Philologiestudiums, das die Literatur einer Fremdsprache zum Gegenstand hat. Nicht nur das Mittelhochdeutsche, auch Literaturdidaktik, Essaywriting, Shakespeare-, Gryphius- oder Cervantes-Lektüre sind schwieriger zu bewältigen, wenn man sie in einer anderen als der Muttersprache betreibt. Dies kann also nicht zum Argument dafür herhalten, bestimmte schwierigere Aspekte des Germanistikstudiums einfach zu streichen - jedenfalls solange Germanistik noch Deutsche Philologie bedeutet (und nicht "German Studies", was vielleicht längst das interessantere Fach wäre; aber eben ein anderes).

Auch das Argument, mittelalterliche Literatur sei nicht wirklich wichtig oder nicht gegenwartsrelevant (einmal abgesehen davon, dass seine Stichhaltigkeit zu prüfen wäre), sollte Vertretern eines Faches nicht leicht von den Lippen gehen, das selbst und als ganzes unter dem gleichen Legitimationsdruck steht: Ist Goethe vielleicht wichtig? Trägt Thomas Mann zur Wettbewerbsfähigkeit von irgendwas oder irgendwem bei? Verbessert ein Grundverständnis der Generativen Transformationsgrammatik irgendjemandes Berufsaussichten?

Wenn die Germanistik auf ihrer eigenen Notwendigkeit beharren und ihre Potentiale - etwa Geschichtsbewusstsein und die Fähigkeit zur kritischen Lektüre, aber auch ein Widerstand gegen das Denken in ausschließlich ökonomischen Kategorien - pflegen und der Gesellschaft glaubhaft machen will, dann sollte sie nicht versuchen, ihre eigene schwierige Verteidigung auf der Preisgabe eines schwächeren Mitspielers aufzubauen; denn wenn Wolfram aus den Studienplänen gestrichen werden kann, weil sein Nutzen nicht quantifizierbar ist, dann kann auch Goethe gestrichen werden, und warum nicht überhaupt die Germanistik; denn Übersetzungstechniken, Lehrerausbildung, Deutschkenntnisse für Tourismusbranche und internationale Wirtschaft - alle praktischen Anwendungen und Nebenprodukte der Germanistik lassen sich anderswo schneller, besser, effizienter produzieren.

III.
Argumente gegen Sprachgeschichte und Mediävistik wenden sich also zwangsläufig auch gegen die Germanistik als ganzes; wichtiger und interessanter aber sind die Argumente, die sich FÜR die genannten Gegenstände ins Feld führen lassen.

Statt die vermeintlich zu große sprachliche Hürde als Argument gegen das Mittelhochdeutsche ins Feld zu führen, könnte man anfangen darüber nachzudenken, welchen Nutzen gerade Germanistikstudenten mit einer anderen Muttersprache aus der Beschäftigung mit der Geschichte der deutschen Sprache ziehen können.

Sprachlernern kann der historische Blick auf die Sprache zu einigen zusätzlichen Dimensionen von Sprachgefühl verhelfen: zu einem Gefühl für die historische Vielfältigkeit der Sprache, der die dialektale, soziolektale etc. Vielfältigkeit der Gegenwartssprache entspricht; und zu einem Gefühl für Sprache als ein zu jedem Zeitpunkt (also auch heute) Werdendes. All dies kann auch dazu beitragen, die gelehrten und gelernten Grammatikregeln als Annäherungshilfe statt als Beschränkungen im Umgang mit der Sprache zu begreifen.

Angehenden Sprachlehrern ermöglicht die historische Linguistik einen fundierten Zugang zur Struktur der deutschen Sprache, der das Vermitteln von Deutschkenntnissen erleichtern kann - Man muss seinen Schülern nicht erklären, warum zum Beispiel die Modalverben, die starken und die anderen sogenannten unregelmäßigen Verben im Deutschen so sind, wie sie sind; aber es selbst zu wissen, erleichtert den Überblick und begründet in glaubhafter Weise den Ratschlag an die Schüler, die unregelmäßigen Verben tatsächlich auswendig zu lernen, da das System, das sehr wohl hinter ihnen steckt, für praktische Zwecke zu kompliziert ist.

IV.
Auch in literarischer Hinsicht kann ein Seminar zum altsächsischen Heliand oder zu den Merseburger Zaubersprüchen genausoviel, vielleicht sogar mehr leisten als ein Seminar über das bürgerliche Trauerspiel oder das Drama des Expressionismus: Konfrontation mit fremder, fremdartiger, (zunächst, teilweise) unzugänglicher Literatur; Zugang (oder eben nicht) zu einer fremden, fernen Kultur; damit ein Bewusstsein dafür, dass das Leben und der literarische Blick darauf nicht immer und überall so sein müssen, wie wir das gewohnt sind. Auch ein Bewusstsein für die Nicht-Linearität von Geschichte (und eben auch Literaturgeschichte): mittelalterliche Literatur ist anders, aber nicht weniger kunstvoll, nicht weniger komplex und schon gar nicht ursprünglicher; und das gleiche gilt für die Gesellschaft, die sie hervorgebracht hat.

Das alles läuft auf eine Dimension von Fremdheit hinaus, die fundamental für jede Literatur ist und deren Erkenntnis ein Vermittlungsziel des literaturwissenschaftlichen Unterrichts sein sollte. Mittelalterliche Literatur verhindert aufgrund ihrer sprachlichen und kulturellen Fremdheit den scheinbar unmittelbaren, identifikatorischen ersten Leseeindruck; ihre Fremdheit ist unausweichlich und kann direkt in den Blick genommen werden. So lässt sich erfahren, dass man als Leser über einen diffusen, gefühlsbestimmten ersten Leseeindruck hinauskommen, und welches Vergnügen das Erkunden des zweiten und dritten Leseeindrucks bereiten kann. Zugleich entwickelt sich auch eine grundsätzliche Skepsis in Bezug auf Texte, ein Bewusstsein für kulturelle und literarische Formen, das Beurteilungskategorien wie "Wahrheit" oder "Authentizität" ersetzt.

All diese Erfahrungen und Einsichten sind nicht nur - unter dem Stichwort der Schlüsselqualifikationen oder der kulturellen Kompetenz - von größtem Nutzen für die verschiedensten beruflichen Tätigkeitsfelder. Die hier mit dem Begriff Fremdheit belegten Eigenheiten mittelalterlicher Literatur entsprechen in gewisser Weise auch der Situation, in der sich Auslandsgermanisten (Studierende wie Forschende) ohnehin befinden, die mit der Literatur einer (für sie) Fremdsprache ein gegenwärtiges Fremdes zu ihrem Thema gemacht haben. Vielleicht ließe sich aus dieser doppelten Fremdheit heraus sogar eine neue, eigene Perspektive auf die alten Texte entwickeln.

V.
Und schließlich das letzte und, wer weiß, vielleicht einzige wirklich schlagende Argument: Der "Parzival" von Wolfram von Eschenbach ist eins der besten literarischen Werke deutscher Sprache; Otfrids "Evangelienbuch", Wittenwilers "Ring" und all die anderen unbekannten Berühmtheiten bergen mehr Überraschungen, als man sich vor der Lektüre auch nur vorstellen kann. Wer den entscheidenden Funken Begeisterung für Literatur besitzt, sollte darauf nicht freiwillig verzichten wollen.

VI.
Als kleine erste Einstiegshilfe zu eigenen Entdeckungsreisen in die fremden, unbekannten Landschaften der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen deutschen Literatur sind die folgenden (übrigens gar nicht so geheimen) Literaturhinweise gedacht. Die Titelauswahl ist in keiner Weise repräsentativ, sondern folgt in erster Linie persönlichen Vorlieben (sie ist aber jedenfalls als Empfehlung zu verstehen!). (Von fast allen Werken gibt es auch andere Ausgaben, von vielen genannten Ausgaben auch andere, z.T. neuere Auflagen.)

Althochdeutsch
Die Standardsammlung althochdeutscher Literatur (kleinere Texte und Auszüge aus den umfangreicheren Werken):

Ausgewählte Übersetzungen althochdeutscher Texte:

Otfrid von Weißenburg: Wer denkt, Luther sei der erste gewesen, der die Bibel ins Deutsche übertragen hat, der hat hier eine Entdeckung zu machen!

Altniederdeutsch (Altsächsisch)
Das Niederdeutsche war nicht nur zur Hansezeit eine wichtige Handelssprache, sondern schon lange vorher eine bedeutende Literatursprache:

Mittelhochdeutsch
Der vielleicht beste Autor deutscher Zunge:

Der höfische Standard-Autor und sein Standard-Ritter; gut zum Einstieg:

Die berühmteste Ehebruchsgeschichte des Mittelalters:

Ein Stoff, der schon viele Bearbeitungen und ideologische Vereinnahmungen über sich ergehen lassen musste; die Lektüre der Bearbeitung (und natürlich auch irgendwie ideologischen Vereinnahmung) des 12. Jahrhunderts kann da ganz neue Perspektiven eröffnen:

Der zumindest dem Namen nach heute noch bekannteste mittelalterliche deutsche Autor; warum also nicht mal seine Werke lesen:

mittelhochdeutsches Wörterbuch:

zu Vokabular und Idealen der höfischen Literatur:

Frühneuhochdeutsch
Die älteste Version des (angeblich) deutschesten aller Romanstoffe:

So fremd, dass selbst die Forschung sich mit ihnen schwertut:

Ein Post-Ritter-Trashepos, höchst intelligent und höchst unterhaltsam:

Noch ein alter Bekannter, den keiner so recht kennt:

Diesen frühneuhochdeutschen Autor kennt nun wirklich jeder; aber wer hat schon etwas vom ihm gelesen?

Deutsche Literaturgeschichte des Mittelalters

Deutsche Sprachgeschichte

Gotisch
Das Gotische gehört, anders als die anderen genannten Sprachen und Sprachstufen, nicht in die Ahnenreihe des Neuhochdeutschen; da es sich aber (anders als z.B. Altenglisch und Altnordisch) keiner heute noch gesprochenen Sprache zuordnen lässt, wird es institutionell und lehrplantechnisch zumeist der Germanistik zugeschlagen.

Die Bibelübersetzung des westgotischen Bischofs Wulfila oder Ulfilas ist die älteste überlieferte Übertragung der Bibel in eine germanische Sprache:

  • Wilhelm Streitberg (Hg.): Die Gotische Bibel. Bd. 1: Der gotische Text und seine griechische Vorlage. Mit Einleitung, Lesarten u. Quellennachweisen sowie den kleineren Denkmälern als Anhang, 7., durchges. u. erg. Aufl. Heidelberg (C. Winter) 2000 (= Germanistische Bibliothek Bd. 3), Bd. 2: Gotisch-Griechisch-Deutsches Wörterbuch. 6. Aufl. Heidelberg (C. Winter) 2000 (= Germanistische Bibliothek Bd. 4).
  • www.wulfila.be (elektronische Version des Project Wulfila).

zu Möglichkeiten und Notwendigkeiten der Mediävistik in In- und Auslandsgermanistik:

  • Ingrid Kasten: "Mediävistik als Modell 'Interkulturellen Verstehens', in: DAAD (Hg.), Germanistentreffen Deutschland - Spanien - Portugal 13.-18.09.1998. Dokumentation der Tagungsbeiträge, Bonn 1998, S.101-115.
  • John Greenfield: "Mediävistik: zwischen Lusitanistik und Germanistik? Zum Studium der älteren deutschen Literatur an protugiesischen Hochschulen", in: DAAD (Hg.), Germanistentreffen Deutschland - Spanien - Portugal 13.-18.09.1998. Dokumentation der Tagungsbeiträge, Bonn 1998, S.117-1125.

...und ein Beispiel für Wolframs Gegenwartstauglichkeit:

  • Nadja Nitsche: "Neo ohne Illusionen - Parzival im virtuellen Raum", in: Kritische Ausgabe 2 / 2003 (unter "die hefte" -> "2/2003: Industrie")



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letzte Aktualisierung: 8. März 2004
actualizada: 8 de marzo de 2004