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Egyd Gstättner
Wenn alle Stricke reißen, häng ich mich auf! Ein paar Andeutungen zu Österreichischer Gegenwartsliteratur
Die folgende literarische Einführung in die österreichische Gegenwartsliteratur gab uns Egyd Gstättner bei seinem Besuch in Salamanca im Februar 2002. (Alle Rechte an dem Text verbleiben natürlich beim Autor.)
Erschienen: Februar 2002
Empfohlene Zitierweise:

Egyd Gstättner: Wenn alle Stricke reißen, häng ich mich auf! Ein paar Andeutungen zu Österreichischer Gegenwartsliteratur (Februar 2002), in: g-daf-es <http://www.g-daf-es.net/lesen_und_sehen/texte/strick.htm>.

Bitte setzen Sie beim Zitieren dieses Beitrags hinter die URL-Angabe in runde Klammern das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse.

Umso näher der Tag meines Vortrags über neueste Tendenzen in der Österreichischen Gegenwartsliteratur an der weltberühmten Universität von Salamanca rückt, liebe Frau Bachel, desto schlechteres Gewissen plagt mich. Denn bis zum heutigen Tag, exakt einen Monat vor dem Termin dieser Rede, habe ich trotz der allerbesten Vorsätze noch nicht ein Wort zu Papier gebracht. Alle Versuche, die mir in den Kopf gekommen sind, habe ich gleich im Kopf wieder verworfen, liebe Frau Bachel (alte österreichische Tradition der Kopflastigkeit), sodaß ich fürchte, dass ich das Versprechen, das ich Ihnen gegeben habe, - also diesen Vortrag - nicht werde halten können.

Gleich zu allem Anfang hätte ich kategorisch nein sagen sollen: Ich bin schließlich kein Germanist. Ja, zugegeben, ich habe Germanistik studiert, aber das ist jetzt bald zwanzig Jahre her. Das heißt, meine gesamte Zellstruktur ist mittlerweile dreimal vollständig ausgewechselt worden, und praktiziert habe ich ein germanistisches Dasein von Anfang an ohnehin nie und nicht einmal nebenbei. Ich habe alle Einladungen, mich in irgendwelche Jurys zu setzen, ausgeschlagen, ja ich habe in meinem Leben ganz bewusst noch nicht eine einzige Rezension geschrieben und will es auch weiterhin so halten. (Meine eigenen Geschmacksurteile sollen erst gar nicht den Anschein von Objektivität erwecken). Neben der Germanistik habe ich ja auch die Germanisten studiert und schnell herausgefunden, dass ich alles, nur kein Germanist werden will.

Ich bin Autor, Schriftsteller, Dichter - ganz wie Sie wollen - und ehrlich gestanden sind mir wie jedem anderen österreichischen Autor, Schriftsteller, Dichter auch die neuesten Tendenzen in der österreichischen Gegenwartsliteratur vollkommen egal, einmal ganz abgesehen davon, dass ich nicht glaube, dass es welche gibt. (Alte österreichische Tradition der Untertreibung). Wie jeder andere österreichische Schriftsteller auch ignoriere ich jeden anderen österreichischen Schriftsteller, wo immer und so lange es nur geht. Sogar die österreichischen Schriftstellerinnen ignoriere ich (schweren Herzens) und lebe in größtmöglicher Einsamkeit und Isolation ausschließlich für mein Werk.

Die Rede werde ich nun schon deswegen nicht halten können, weil es sich nicht gehört, in einem Fachvortrag andauernd nur von sich selbst zu reden. Da es sich aber ausgerechnet bei mir unglücklicherweise um den bedeutendsten lebenden Österreichischen Autor handelt, müsste ich - klammerte ich mich bei meinem Vortrag über Österreichische Gegenwartsliteratur aus Gründen der Bescheidenheit, Höflichkeit und Seriosität einfach aus - mein Thema derart dramatisch verfehlen, dass das ganze Thema seines Zentrums beraubt zusammenbräche und Ihre Studenten in Salamanca gar nichts von der Veranstaltung hätten, liebe Frau Bachel! (Alte österreichische Tradition der Übertreibung). Wie recht ich aber mit meinen Skrupeln habe, geht schon daraus hervor, dass unter Garantie kein anderer Österreichischer Autor an dieser Stelle etwas anderes als ich geschrieben hätte, auch wie ich ich geschrieben und damit sich gemeint hätte, wie ich mich gemeint habe. Hier spricht also nicht ein Österreichischer Literat, hier spricht aus mir die Österreichische Literatur schlechthin, demonstriert die literarische Technik des Absagebriefs (dessen wohl wichtigster Vertreter ich bin: Die Verweigerung bietet schließlich Gelegenheit, das Verweigerte zu demonstrieren und in seine Bestandteile zu zerglegen) und nennt auch gleich eines ihrer großen Themen und Motive, das Scheitern, das ewige Scheitern an der Größe einer Aufgabe, ein Pandämonium der Unmöglichkeiten: So ungroß kann eine Aufgabe gar nicht sein, dass man nicht trotzdem in Bausch und Bogen daran verzweifeln, scheitern, zugrunde gehen kann; und sie daher eben lieber verweigert. Ganze Romane sind geschrieben worden, die davon handeln, wie einer einen Roman schreiben will und die ganze Welt mit Schreibtischen zupflastert und sonstige mehr oder weniger kuriose und abenteuerliche lebenstechnische Anstrengungen unternimmt, um die Bedingungen für das Schreiben dieses Romans zu schaffen, nichtsdestotrotz aber jahrzehntelang und bis zum Tag seines Todes an der Niederschrift des allerersten Wortes dieses Romans scheitert - der die ganze Existenz gerechtfertigt hätte. Zu denken wäre etwa an Robert Menasse, vor allem aber an Thomas Bernhards Beton, der übrigens auf spanischem Territorium spielt. Der Größenwahn ist immer mit Unfähigkeitsmanie gekoppelt, die literarische Allmachtsphantasie mit schrecklichster Ohnmachtsverzweiflung, Narzissmus mit Eigenekel, der an physischen oder wenigstens psychischen Selbstmord grenzt. Aber ich schweife vom Thema ab, auch das übrigens durchaus traditionell.

Während der letzten schlaflosen Nächte bin ich nun auf die Idee verfallen, ich könnte den Vortrag für Salamanca vielleicht insofern retten, als ich nicht über mich, sondern stattdessen über die Hauptstadt der deutschsprachigen Literatur referiere, in der, wie der Zufall so spielt, niemand geringerer als ausgerechnet ich lebe. Gemeint ist damit natürlich weder Berlin, noch Frankfurt, weder Wien noch Zürich. Und lächerliche Provinznester wie Graz, Salzburg oder Weimar schon gar nicht. Gemeint ist selbstverständlich Klagenfurt. Diese sechstgrößte Kommune des Kleinstaates Österreich, in dem Tag für Tag die Sonne untergeht, sofern sie tagsüber überhaupt am Himmel war, nennt sich selbst nämlich allen Ernstes Hauptstadt der deutschsprachigen Literatur, aber nicht, weil sie das unverdiente Glück hat, meine Geburtsstadt und davor schon die Geburtsstadt Gert Jonkes, Ingeborg Bachmanns oder Robert Musils zu sein, sondern aus dem eher läppischen Grund, weil hier seit einem Vierteljahrhundert jedes Jahr am Sommerbeginn die sogenannten Tage der deutschsprachigen Literatur stattfinden, in deren Rahmen ein Wettlesen stattfindet, das mit der Vergabe des Ingeborg-Bachmann-Preises endetet, der mit 300.000.- ATS/ 21.800 Euro dotiert ist. Da ordinieren vor laufenden Fernsehkameras sieben Literaturgynäkologen, die an drei Tagen im Stundentakt 16 von ihren Poesiepresswehen noch ganz erschöpfte Dichter behandeln und deren Werk diagnostizieren, klassifizieren, analysieren und fallweise zu therapieren versuchen, was freilich so unsinnig ist wie die Ultraschalluntersuchung der Plazenta nach der Entbindung. So etwas kommt nur in Fernsehserien vor. Der Bachmannpreis ist allerdings wie gesagt eine Fernsehserie. Bei diesem Medienspektakel, das ich vor meiner Haustür habe, wird jedenfalls schnell klar, dass die österreichische Gegenwartsliteratur innerhalb der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (und übrigens auch österreichische Kritik innerhalb der deutschsprachigen Kritik und der österreichische Literaturmarkt innerhalb des deutschsprachigen Literaturmarktes) so gut wie gar keine Rolle spielt. Für eigene Tendenzen sind die Exoten im eigenen Land nicht wichtig, nicht erheblich, nicht repräsentativ und vor allem nicht vermarktbar genug. Einer der Haupteinwände, der vom deutschen Literaturmarkt gegen österreichische Literatur immer wieder vorgebracht wird, ist der, sie sei zu österreichisch.

In einem Vierteljahrhundert haben genau zwei Österreicher das Wettlesen gewonnen, nämlich 1978 im Startjahr der Lokalmatador Gert Jonke und fast zwanzig Jahre später 1995 der Dichter Franzobel (recte: Stefan Griebl aus Völklabruck). Trotz ihrer Triumphe hat sich keiner der beiden am deutschen Markt etablieren können oder ist auch nur ein österreichischer Nationalheld geworden. Zu Franzobel wäre anzumerken, dass er und ich uns heute in der österreischichen Qualitätszeitung Die Presse die wöchentliche Kolumne Literatur im Sport teilen. Wenn Sie das als Tendenz werten wollen, bitte...

Letztes Jahr hat von 16 Piloten am größten Betriebsausflug der deutschsprachigen Literatur ein einziger Österreicher überhaupt teilgenommen, nämlich Ludwig Laher, und man kann ihm schwer vorwerfen, dass auch er dabei keinen bleibenden Eindruck hinterlassen hat. Zur Ehrenrettung der an sich unwichtigen Österreichischen Gegenwartsliteratur muß man aber anmerken, dass sich das Gros der wichtigsten österreichischen Gegenwartsautoren immer standhaft geweigert hat, beim Bachmannpreis mitzutun, sowohl früher, als er als skandalträchtige Veranstaltung galt (einmal, als die deutschsprachige Literatur ihre Tage hatte, ist tatsächlich Blut geflossen oder wenigstens getropft) als auch heute, wo sie eher den Charakter eines Laborantenseminars hat: Thomas Bernhard, Peter Handke, Elfriede Jelinek, Ernst Jandl, Gerhard Roth, Michael Köhlmeier, um von mir wieder ganz zu schweigen: Lang ist die Liste der Prominenten, die nicht auf der Teilnehmerliste stehen.

Ohne mich selbst wichtig zu machen, hätte ich in meinem Vortrag freilich erzählen können, dass ich auch außerhalb ihrer Tage im Zentrum der Hauptstadt der deutschsprachigen Literatur, in der Landhausbuchhandlung, sozusagen im Regierungspalast, beim Büchersignieren oder Kaffeetrinken öfters mit anderen maßgeblichen österreichischen Autoren zusammentreffe, mit Alois Brandstetter oder Alexander Widner etwa, vor allem aber mit Josef Winkler, dem bedeutendsten Österreichischen Gegenwartsautor überhaupt, dessen Augen sich, wenn er beobachtet, wie ein Widerhaken im Beobachteten verankern und der, wenn er schreibt, anstelle eines Stiftes immer einen Zahnarztbohrer verwendet, weshalb alles Winklergeschriebene am Ende wie in Steintafeln gemeißelt wirkt, wodurch sich auch die fulminante Eindringlichkeit und Kraft und benommenmachende Wucht seiner Literatur erklärt, von einer gewissermaßen grauenhaften Schönheit und Opulenz ganz zu schweigen. Denn wie unser aller Großmutter Ingeborg Bachmann einen unvollendeten Romanzyklus Todesarten betitelt hat, so kann man auch in Josefs Werk letztlich die manische Verkettung von Todesarten sehen, die in stürmischem Sprachfluß geschilderte Hölle auf Erden, ein ohnmächtiges Aufbegehren, ein Aufschrei, der vom Abgewürgtwerden bedroht desto wilder wieder losbricht. Es wird massenhaft und exzessiv und expressionistisch und ausführlich und bis ins kleinste Detail hinein in jedem Alter gestorben und eingesargt und aufgebahrt und begraben bei Josef Winkler. Das Menschenvernichtende und Seelenzersetzende der Familie, das Menschenvernichtende und Seelenzersetzende der Kirche - insbesondere der katholischen, das Menschenvernichtende und Seelenzersetzende des Dorfes, das Menschenvernichtende und Seelenzersetzende des Landlebens und der Sprachlosigkeit und Stumpfheit der bäuerlichen Welt, das Menschenvernichtende und Seelenzersetzende der Hierarchien und Obrigkeiten, das Menschenvernichtende und Seelenzersetzende der Herrschenden, denen man ausgeliefert ist, das Menschenvernichtende und Seelenzersetzende des Staates und letztlich das Menschenvernichtende und Seelenzersetzende der absoluten Todesgewissheit und ihr literarischer Ausdruck sind samt und sonders althergebrachte Topoi der österreichischen Literatur - in den meisten von uns steckt irgendwo ein Bernhard, in den meisten irgendwo ein Kafka; hier bei Winkler ist die Tradition aufs neue auf den Gipfel der Sprachgewalt getrieben. Auf der Broschüre des Suhrkampverlages, in dem sein bisheriges Werk versammelt ist, steht eingangs das Zitat "Die Lebenden sollen endlich von den Toten auferstehen". Der Dichter des Todes wie er einmal genannt worden ist, will Winkler nicht genannt werden. Alles, was man über einen sagt, ist zu wenig und zu ungenau, alles was man über einen sagt, ist falsch, vor allem, wenn man ihn fragt, das muß man wissen. Aber als ich Josef Winkler kennengelernt habe (es war vor mittlerweile sieben Jahren nicht zu Hause, sondern bei einer gemeinsamen Lesung in Innsbruck, sind wir bei der ersten Kontaktaufnahme im Hotel Maria Theresia binnen zehn Minuten auf das Thema Selbstmord zu sprechen gekommen, als wäre gar nichts anderes möglich und als wäre das das Selbstverständlichste der Welt. Er hat mir erzählt, dass der Doppelselbstmord zweier Jugendlicher in seinem Heimatort Kamering in seiner eigenen Kindheit im Grund ausschlaggebend für sein eigenes Schreiben und für sein ganzes Werk war. Erst dieses Schockerlebnis hat die Sicht auf die eigenen medizinisch zwar irrelevanten, nichtsdestotrotz lebensgefährlichen Verletzungen freigelegt, bis heute ist sein eigener Suicid nicht ganz ad acta gelegt. Solche Worte sind mehr als Koketterie: Franz Innerhofer, einem Dichter mit winklerischen Herkunftsbedingungen und keine zehn Jahre älter als der, ist heute eine halbe Zeitungsseite gewidmet, weil man ihn gestern in seiner Grazer Wohnung erhängt aufgefunden hat. Erst seit der Geburt seines Sohnes, die ja kein literarisches Ereignis und auch keine literarische Tendenz ist, spricht der Josef jetzt etwas weniger vom Tod und geht seltener auf Friedhöfen spazieren. In seinem letzten Buch gibt`s bloß eine einzige Leiche! Aber Suicid im Maria Theresia - jeder zweite österreichische Dichter hat etwas in der Schublade, dem er diesen Titel geben könnte. An Morbidität mangelt es nicht.

Wie Sie jedenfalls sehen, liebe Frau Bachel, komme ich hier unvermutet ganz dramatisch ins Kollegenloben hinein, was ich gerade in einem solchen Vortrag eigentlich vermeiden wollte, weil es eines österreichischen Schriftstellers unwürdig ist. Das wäre jedenfalls wirklich eine ganz neue Tendenz: Diesbezügliche Traditionen existieren kaum. Die meisten halten sich an die Losung von Karl Kraus - ich zitiere aus dem Gedächtnis: "Meiner Hochachtung für die Dichtung als solche entspricht meine Verachtung jedes ihrer Dichter". Josef Winkler ist gleich zweimal beim erwähnten Bachmannpreis angetreten, gewonnen hat er ihn nie. Dafür ist ihm letztes Jahr der Döblinpreis zugesprochen worden, und eine mittelbare Folge davon war die Besprechung seiner neuen Novelle Natura morta (die, wo nur 1e Leiche vorkommt) in der Fernsehunterhaltungssendung Literarisches Quartett, insofern eine Radikalisierung des Bachmannpreises, als für dasselbe mediale Spektakel statt sieben nur noch vier Juroren und statt 16 nur noch 0 (anwesende) Dichter nötig sind, deren neue Bücher das Quartett möglichst marktkonform verreißen oder preisen. Die vier sind - lassen Sie es mich so ausdrücken: nicht einmal Germanisten. Der ehemalige Jurysprecher des Bachmannwettbewerbes ist gleichzeitig der Star und Quotenking dieses Literarischen Quartetts, ein unfassbar aufgeblasener Greis namens Marcel Reich-Ranicki, der den inoffiziellen Titel Literaturpapst führt. Nun ist es mir zu langweilig und zu kindisch nachzuforschen, wie viel der Papst von Gott und der Literaturpapst von Literatur versteht. Jedenfalls hat ihm an Winklers Natura morta expressis verbis am allermeisten imponiert, dass es bloß 97 Seiten hat - und alle seine "Fachurteile" bewegen sich - positiv oder negativ - üblicherweise in diesen Dimensionen. Während aber die katholischen Gläubigen (wenn überhaupt) in erster Linie nicht an den Papst, sondern an Gott glauben, glauben die Literaturgläubigen nicht an die Literatur oder gar den Literaten, sondern dem Literaturpapst, und im Unterschied zum Papst haben seine Segnungen und Bannflüche gewöhnlich direkt am Markt spürbare Auswirkungen auf das Kaufverhalten seiner Schäfchenherde. So hat sich die Auflage von Josefs Winklers bislang schwer verkäuflichem Werk zu seinem Glück durch diesen einen Fernsehauftritt in absentia über Nacht verzehnfacht, und momentan muß man sich jedenfalls in dieser Hinsicht keine großen Sorgen um ihn machen. (Nun aber wird das Literarische Quartett eingestellt, ein Ereignis, das sich im Grund nur mit dem Tod Gottes vergleichen lässt und dessen Tragweite für die gesamte deutschsprachige Literatur und damit mittelbar auch für die österreichische sich noch gar nicht absehen lässt.)

Als wir uns also letztens in der Klagenfurter Landhausbuchhandlung trafen, hat mir der Josef erzählt, ihm sei zu Ohren gekommen, der Romancier Robert Menasse hielte sich selbst für den bedeutendsten österreichischen Schriftsteller, was uns beide natürlich doch geärgert hat, aus vielen anderen Gründen auch aus dem, dass es nicht stimmt und gar nicht stimmen kann. Robert Menasse meint das auch noch ernst, weil er ja alles, was er sagt, ernst meint, und insofern ist er, der Österreicherklärer vom Dienst, der der österreichischen Politik im Feuilleton am Tag vor der Nationalratswahl immer sehr phantasievolle Vorschläge für künftige Koalitionen macht, die zwei Tage später nach der Wahl schon wieder Makulatur sind, weil sich die Umsetzung seiner Regierungsvorschläge infolge des Wählerverhaltens schon rein rechnerisch gar nicht ausgeht - insofern also ist er - Bedeutung hin oder her - gar kein österreichischer Dichter und eigentlich überhaupt kein Österreicher (alte österreichische Tradition der Verunglimpfung und Diffamierung).

Ein österreichisches Nachrichtenmagazin hat nämlich unlängst eine Germanistenrunde beauftragt, eine Leseliste für die Ewigkeit zu erstellen, gewissermaßen die Eternal Top Fifty aller Zeiten und Länder. (Wenn Sie wollen, auch das so eine neueste Tendenz im Zeitalter des Poetischen Kapitalismus). Gewonnen hat dieses Ranking, wenn ich mich recht erinnere, Goethes Faust, gefolgt von einer Anthologie hebräischer Autoren, die nur unter ihrem Vornamen publizieren und die literarische Technik des Testamenteschreibens pflegen, mit dem etwas reißerischen Titel Die Bibel - aber unter den Top Fifty sogar bei österreichischen Germanisten nicht ein einziger lebender österreichischer Schriftsteller - geradezu geschäftsschädigend eigentlich! Ich gebe zu: Ich habe mich schon gewurmt (Austriazismus für: geärgert), dass ich - wenn das Gerücht stimmt - mit dem gerade nicht mehr veröffentlichten, undankbaren 51. Platz vorlieb nehmen musste. Das bedeutet aber auch, dass Menasse bestenfalls auf Platz 52 gekommen sein kann.

Da ich ja gar keinen Vortrag halte, sondern mich nur bemühe, ihn möglichst begründet abzusagen und für unmöglich zu erklären, liebe Frau Bachel, erlaube ich mir, die Absage hier kurz für zwei Zwischenbemerkungen in eigener Sache zu unterbrechen. Da ich nämlich eingangs mich selbst als bedeutendsten lebenden österreichischen Schriftsteller und später ebenso selbstverständlich Josef Winkler als diesen bedeutendsten lebenden österreichischen Schriftsteller bezeichnet habe, hätten ihre Studenten, hielte ich diesen Vortrag, die durchaus berechtigte Frage stellen können, wer von uns denn nun tatsächlich der bedeutendste lebende österreichische Autor ist, und ich hätte antworten müssen, dass, wie ich schon gesagt habe, jeder von uns dieser bedeutendste lebende österreichische Schriftsteller ist, außerdem noch ein paar dutzend andere, von denen ebenfalls jeder der bedeutendste österreichische Schriftsteller der Gegenwart ist (alte österreichische Literaturtechnik der stereotypen Wiederholung ad infinitum). Dem Einwand ihrer Studenten, dies sei schlechterdings ein Widerspruch in sich, denkunmöglich, paradox und absurd, hätte ich bloß entgegnen können, dass es in einem österreichischen Künstlergehirn eben nicht unabsurder zugeht, und ich hätte außerdem darauf verwiesen, wie ihr Landsmann Unamuno reagiert hat, wenn man ihm Widersprüchlichkeit vorgeworfen hat.

Sicher aber würde es Ihren Studenten an dieser Stelle schon längst auf die Nerven gehen, dass ich noch nicht viel Wesentliches zu Trends gesagt habe, sondern geradezu manisch von Bedeutung schwafle. Das hängt damit zusammen, dass die Manie ja nur die eine Hälfte einer manischen Depression ist, und das Deprimierende ist, dass wir alle zusammen völlig bedeutungslos sind, dass die österreichische Literatur nicht nur, wie bereits skizziert, innerhalb der deutschsprachigen Literatur, sondern auch innerhalb der Österreichischen Gesellschaft nicht viel mehr Gewicht hat als der Sportverband der Synchrontaucherinnen. Nicht dass es gar keine Anhänger und Verehrer gäbe, aber wenn zur Lesung eines Dichters in Österreich mehr als hundert Leute kommen, ist das schon ein ausgesprochenes literarisches Volksfest. Es ist unfassbar, wie viel geschrieben und wie wenig gelesen wird, wie klein das Publikum ist. Umso kleiner das Publikum, desto größer die Wahrscheinlichkeit (und Gefahr), dass es - wie man sagt - qualifiziert ist, also aus Aushilfsgermanisten, Pseudogermanisten oder Germanisten besteht, insofern mächtige Menschen in der literarischen Szene, als sie letztlich für die Verteilung oft existenzentscheidender öffentlicher Gelder zuständig sind. Das wiederum hat zur Folge, dass man vielen gerade neuen Dichtungen anmerkt, dass der Dichter es sich nicht leisten kann, so zu schreiben, wie es ihm passt und wie er will, sondern so, wie der Germanist oder Kritiker es will oder wenigstens so, wie der Dichter glaubt, dass der Germanist oder Kritiker es will. Ein Schlagwort für diese Tendenz deutschsprachiger Gegenwartsliteratur ist Stipendiatenprosa und ein kongeniales Adjektiv wäre unlesbar. (Die andere Alternative wäre in dem Dilemma die, so zu schreiben, wie man glaubt, dass ein fiktives, großes Publikum es will, die Alternative implizierte aber unweigerlich einen gigantischen freiwilligen Niveauverzicht und wäre also nicht weniger demütigend und unsinnig).

Das bringt mich zu meiner zweiten Zwischenbemerkung: Denn bei allem bisher Vorgebrachten könnte der Eindruck entstanden sein, ich hegte eine Abneigung gegen die Berufsgruppe der Germanisten - und da ich diesen Vortrag, hielte ich ihn, vor angehenden spanischen Germanisten hielte, liefe ich Gefahr, mich ohne zwingende Notwendigkeit in einem fremden Land bei fremden Menschen äußerst unbeliebt zu machen, wozu ich weder Lust, noch Neigung habe. Es ist einfach so: Wenn ich schon zum Arzt gehen muß, ist mir der Allgemeinmediziner lieber als der Spezialist und der Spezialist lieber als der Superspezialist. Denn der ist in der Regel der, bei dem man stirbt. Auf alle Fälle aber macht er einem mit seinen Eingriffen und diätischen Vorschriften und Lustverboten das Leben zur Hölle. Besser wird aber nichts. Oder er sagt: Sie sind ohnehin gesund. Was wollen Sie denn bei mir? Der Germanist fühlt sich zum Schwierigen hingezogen, und was er gleich versteht, kann nicht viel wert sein. Einer der Bachmannpreisjuroren hat einmal befunden: "Ich habe überhaupt nichts verstanden. Aber da habe ich gewusst, das muß Literatur sein!" Aber wenn man beim Schreiben daran denkt, dass es finanziell günstig ist, so zu schreiben, dass möglichst niemand das Geschriebene versteht, wäre es doch besser, das Schreiben bleiben zu lassen. Und wenn ich bei einem Germanisten nicht an einen Superspezialmediziner denken muß, dann an einen Haubenlokalspeisetester, der, wenn er das Geschmäcklerische seiner Tätigkeit schon nicht völlig wegrationalisieren und ableugnen kann, den Geschmack zur Norm zu erheben und zu objektivieren, seinen Geschmack wissenschaftlich zu maskieren und so zu tun versucht, als hätte sein Bauch als allererstes den kategorischen Imperativ des Immanuel Kant studiert. Zwei Alptagträume plagen mich. Der erste: Alle anderen Menschen sind Dichter, genau wie ich. Der zweite: Alle anderen Menschen sind Germanisten. In beiden Fällen geisteserkranke ich an völliger Sprachlosigkeit und damit nach alter österreichischer Tradition an völliger Weltlosigkeit. Es möchte kein Hund so länger leben. Meine bisherigen literaturbedingten Auslandsaufenthalte haben mich aber glücklicherweise gelehrt, zwischen Inlandsgermanisten und sogenannten Auslandsgermanisten zu unterscheiden, mit denen ich immer gut ausgekommen, mich sozusagen kulinarisch gut verstanden und mitunter sogar Freundschaften geschlossen habe. Das hängt einerseits damit zusammen, dass sie keine vergleichbaren Machtpositionen innehaben und schon deswegen unvoreingenommener und unverkrampfter an ihren Gegenstand herangehen können, andererseits damit, dass es selbstverständlich viel weniger Auslandsgermanisten als Germanisten gibt, dementsprechend der germanistische Konkurrenzdruck im Ausland auch viel geringer und auch die Notwendigkeit für Profilierungsneurosen und gruppendynamischen Unappetitlichkeiten, die am Rücken von Dichtern ausgetragen werden, kleiner ist. Der sichere akademische Qualifikationsnachweis durch den zusätzlichen Spracherwerb ist in dem Zusammenhang auch ein psychologischer Vorteil.

Nach diesen Klarstellungen kehre ich jetzt gelöst zu meiner Absage zurück: Von meinen bisherigen der Literatur zu dankenden Auslandsaufenthalten weiß ich nämlich auch, dass man im (nicht deutschsprachigen) Ausland an österreichischer Gegenwartsliteratur selbst in Fachkreisen gerade einmal die Namen Thomas Bernhard und Peter Handke kennt, man allerdings häufig deren an sich nicht zu verwechselnde Werke miteinander verwechselt, wobei Thomas Bernhard eigentlich vor 13 Jahren gestorben ist, vielleicht aber nach wie vor gegenwärtiger und lebendiger ist als Peter Handke, der noch lebt. Und mich kennt man eben dort, wo ich war, nachdem ich da war, weil ich da war.

Peter Handke hat gerade eben ein neues Prosawerk von 750 Seiten in den Markt entlassen, das, wie der Zufall es will, in karger spanischer Hochgebirgslandschaft spielt und in dem inhaltlich gesehen, sehr wenig geschieht, was man immerhin als kompromisslose Literaturhingabe werten kann. Viel gesehen, gerochen, getastet wird in dem Buch, wie in seinen Büchern der letzten zwanzig Jahre auch schon. Das Unspannende des Inhaltsleeren, unerbittlich und zunehmend autoritärer vorgetragen vom ersten Seher, Riecher, Taster nicht mehr seines Volkes ist nichts Neues, sondern längst bekanntes, benanntes und schubladisiertes Programm des pantheistischen Diktators seit gut zwanzig Jahren. Und da keine Trendumkehr zu erwarten steht und das Beste und Interessanteste, dass ich von Handke zu sagen wüsste, ist, dass Reich Ranicki ihn uninteressant findet, würde ich, hielte ich diesen Vortrag, nicht ein Wort über ihn verlieren wollen. (Alte österreichische Tradition der Konjunktivorgien).

Nicht ein Wort über ihn zu verlieren, würde mir allerdings postwendend als Neid des noch viel weniger Hofierten ausgelegt werden, sodaß ich, hielte ich diesen Vortrag, womöglich auf die Idee verfallen könnte, mich nach all dem, was ich bislang über Germanisten und damit mittelbar über Rezensenten und Kritiker gesagt habe, vollends lächerlich zu machen, indem ich in meiner Bequemlichkeit jetzt doch einfach aus einer Kritik zu Der Bildverlust oder durch die Sierra de Gredos zitiere, in der es heißt:

"Gewiß ist Handke ein wortgewaltiger Schriftsteller. Leider. Seine Fähigkeit wendet sich längst gegen jeden Gegenstand seiner Erzählung. Handkes Sätze breiten sich bis zur Lächerlichkeit an die Grenzen jedes Gedankens aus, berauschen sich am eigenen Klang und haben die entsprechend narkotische Wirkung."

"Handke versucht mit ausufernden Naturbeschreibungen Adalbert Stifter Rang eins als Naturpoet abzulaufen. Er verarbeitet seine zahlreichen Jugoslawienreisen und die im Kampf um "Gerechtigkeit für Serbien" - Handkes Engagements für das seiner Meinung nach stiefmütterlich behandelte Volk - gewonnenen Erfahrungen, um im Universum des eigenen Buches den Krieg in Jugoslawien neu zu führen und pathetische Entwürfe für das Zusammenleben der Menschheit anzustellen. Er borgt sich Figuren aus Miguel Cervantes` "Don Quichotte" aus und hebt sich mit dem Anspruch, so wie dieser für die nächsten Jahrhunderte zu schreiben, kühn auf dessen Niveau. Er stellt Betrachtungen zur Wahrnehmungsfähigkeit des Schriftstellers an, schlägt bei dieser Gelegenheit stolze Pfauenräder, um sich gleich darauf in poetologischen Details zu verlieren..."

Solche Kritiken, die in Handke nach litaneiartiger Hochachtungsbezeugung und Anerkennung des Frühwerks nun hauptsächlich einen längst in totale Wirrnis gesunkenen Großödmops sehen, der den Herrn von Welt hervorkehrt, den man ihm wenn auch naserümpfend und zunehmend widerwilliger, aber immer noch abkauft, sind mittlerweile Standard. Die Großkritiker sind aber selbst an vorderster Front mitschuldig an dem Langweiligkeitsschlammassel - das für die österreichische Literatur auch noch kennzeichnend sein soll: Hätten sie sich ihren Handke nicht herbeigeschrieben, allzu lange trotzig auf den Grundirrtum ihrer Expertisen beharrt und das, was ihnen allmählich doch nur noch Magenkrämpfe oder Narkolepsie verursacht, nicht jahrzehntelang bei jedem einzelnen seiner geradezu lebensgefährlich übergewichtigen opera magna gesalbt, gefeiert und mit Huldigungen und Hymnen empfohlen und institutionalisiert, dann könnte man heute über die unerhebliche Publikation eines solchen Prosaungetüms schweigend hinweggehen. Wäre nämlich exakt dieses Buch Buchstabe für Buchstabe nicht ausgerechnet von Peter Handke, sondern von irgendeinem anderen lebenden österreichischen Schriftsteller - gleich welchem - geschrieben worden, es wäre (wie auch die letzten drei, vier opera magna) unter Garantie erst gar nicht gedruckt worden - weder von Suhrkamp, noch von irgendeinem anderen Verlag - und ein dramatisch schlechtes Lektoratsgutachten hätte schon vorab die vielen dramatisch schlechten Kritiken ersetzt. In einem so fortgeschrittenen Stadium von name-dropping wird aber auch Schrott zur Reliquie. Die angerufenen späteren Jahrhunderte allerdings werden sich wohl kaum in die Geiselhaft zu tradierender Fadesse aus finsterer Vorzeit nehmen lassen und den serbischen Nationalpoeten im französischen Exil ganz locker in die letzte Rumpelkammer ihres Kanons verbannen. In Wahrheit schreibt Handke heute schon für frühere Jahrhunderte.

Sich lächerlich zu machen, wie ich mich hier wie eingangs angekündigt durch meine paradoxe Inkonsequenz wenigstens formal lächerlich gemacht habe, also sich über sich selbst lächerlich zu machen (alte österreichische Tradition der Hanswurstiade), legitimiert einen immerhin, diese Lächerlichmachung auch auf andere und anderes auszuweiten und darüber in tiefste Traurigkeit und Resignation zu versinken, womit ich bei der traditionellen Tendenz österreichischer Literatur angelangt wäre, die ich nach wie vor für die charakteristischste und maßgeblichste halte, auch wenn ich damit den Widerspruch der Experten hinter vorgehaltener Hand evoziere, dem der unentflechtbaren Tragikomödie. Alles Tragische ist komisch, alles Komische tragisch. Ich könnte, hielte ich diesen Vortrag, Traditionsstränge freilegen und auf den Tragikomiker Helmut Qualtinger zu sprechen kommen, auf die Tragikomiker Egon Friedell, Alfred Polgar, Anton Kuh, Karl Kraus, Peter Altenberg; die Tragikomiker Horvath, Schnitzler, den Nationaltragikomikern Johann Nestroy und Ferdinand Raimund bis zum österreichischen Original-Don Quichotte, dem lieben Augustin, deren Lebenslosung samt und sonders vielleicht am treffendsten mit den Worten des in Österreich gut eingeführten Ungarn Peter Esterhazy charakterisiert ist: "Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst!" Oder mit Nestroy gesprochen: "Wenn alle Stricke reißen, häng ich mich auf!" Derlei könnte etwa einem deutschen Schriftsteller nie einfallen.

Wie alle scheinbaren Possen der Ahnen durchdrungen von Fatalismus und Nihilismus sind, von einer letzten anarchischen Lust, von Hoffnungslosigkeit, Aussichtslosigkeit, Seinsekel, Untergangswolllust, Deprimation und Heiterkeit auf dem Grunde der Schwermut, aber auch einem paradoxen Stolz der Inferiorität, so trifft diese Welthaltung und Weltschau im großen und ganzen auch auf ihre Erben zu, so unterschiedlich die sprachlichen Mittel und Themen im übrigen auch sein mögen. Hielte ich meinen Vortrag in Salamanca tatsächlich, so müsste ich mich an dieser Stelle fragen, ob ich den Studenten Gutes und Zweckmäßiges tue, wenn ich sie mit einer Flut mir vertrauter, ihnen aber wohl gänzlich unbekannten, wiewohl nennenswerten Namen überschwemme. Als allererstes hätte ich sie auf die Dramolette von Antonio Fian hingewiesen, dessen Petitessen zusammengenommen ein bitteres, aber nichtsdestotrotz urkomisches und daher tragikomisches (Sitten-) Gemälde der Österreichischen Gesellschaft der Gegenwart entwerfen (denen einzig der notwendige Makel anhaftet, vom Tag für den Tag gedichtet zu sein, sodaß der Transfer von der Aktualität in die Zeitlosigkeit mitunter misslingt), und den ich für einen der listigsten und raffiniertsten, aberwitzigsten und klügsten Autoren halte, die heute in diesem Land leben. Fast unnötig anzumerken, dass Fian wohl in angesehenen Medien, seine Bücher aber in einem Verlag unterhalb der Wahrnehmbarkeitsgrenze publiziert. (Hier muß ich auch extra sagen, dass ich die Adjektive aberwitzig und klug positiv meine, weil es auch eine mindestens bis Robert Musil zurückverfolgbare Tradition gibt, Autoren Aberwitzigkeit und vor allem Klugheit vorzuwerfen - abgesehen davon, dass es auch ein nicht auszurottendes unterschwelliges Vorurteil gibt, die beiden Begriffe schlössen einander aus. Der Aberwitz ist nur sehr flüchtig mit dem Witz verwandt und provoziert eine Form von Lachen, bei der man während des Lachens urplötzlich bemerkt, dass überhaupt kein Grund zu lachen vorhanden ist, eher das Gegenteil. Aber die Betroffenen merken es dann doch sehr schnell und reagieren beleidigt. Antonio Fian hat es nicht notwendig, seine Figuren zu diffamieren, er treibt sie in knappen Dialogen einfach dazu, es selbst zu tun und ganz von allein zu entgleisen. Eine noch hinterfotzigere und böswilligere, aber genauso übliche Unterstellung wie Aberwitz & Klugheit wäre nur Bildung. Robert Musil hat sich ja einmal sagen lassen müssen, er sei zu klug für einen Schriftsteller. Meinem Zeitgenossen Alois Brandstetter ist das auch schon öfters passiert. Ich hätte die Studenten aber auch auf die formale Strenge der milden und traurigen Ironie einer Helga Glantschnig aufmerksam gemacht, auf die abenteuerliche Fabulierlust einer Lilian Faschinger oder Ulrike Längle, auf die grotesken Satiren von Reinhard P. Gruber, Rudolf Habringer, Paulus Hochgatterer, Daniel Glattauer, Martin Amanshauser, Arnold Stadler, Georg Pichler. Demaskierer und Bloßsteller verrotteter gesellschaftlicher und politischer Zustände wie privater Befindlichkeiten und intimer Mördergruben sind sie alle. Und vergessen hätte ich sicher auch nicht auf den geistreichen und skrupellosen Zauberkünstler der Ichfaschierung Günter Eichberger, dessen Buchtitel wie "Ich Fabelwesen", "Vom Heimweh der Sesshaften" oder "Der Doppelgänger des Verwandlunsgkünstlers" als literarische Programmansage genommen werden können. Freilich muß man gerade bei den Laudationes der Genannten höllisch aufpassen, denn jeder seriöse Laudator läuft Gefahr, von den Betroffenen gleich nach der Laudatio coram publico selbst auch noch verspottet und als nichtig abgetan zu werden.

Mir selbst hat Günter Eichberger letztens, als ich etwas Positives über ihn geschrieben habe, in einem Brief postwendend gerichtliche Schritte angedroht, worüber ich mich natürlich sehr gefreut habe. Als die Staatsanwaltschaft seine Anzeige gegen mich bedauerlicherweise zurückgelegt hat, hat Eichberger dann in seiner Verzweiflung Rache genommen, indem er etwas noch viel Rühmlicheres und geradezu peinlich Positives über mich geschrieben hat. Sein Pech (und mein Glück) war nur, dass der Redakteur seine Laudatio nicht drucken wollte und nicht einmal ein Ausfallshonorar bezahlt hat.

Hielte ich diesen Vortrag, liebe Frau Bachel, könnte ich ihn nicht beschließen, ohne zu sagen, dass sich die Österreichische Gegenwartsliteratur in vielfältigster Weise nicht nur mit Begriffen wie Provinz und Heimat, sondern mit dem Land als solchen und dem politischen Österreich auseinandersetzt und herumschlägt, und ein wesentlicher Punkt der Gegenwartsbewältigung ist die Vergangenheitsaufarbeitung, das Aufbrechen eines großen Schweigens von Millionen Stimmen. Alle bereits genannten Autoren haben Österreichs Rolle im Faschismus, Nationalsozialismus, im Krieg, im Antisemitismus und Holocaust thematisiert, sein kollektives Vergessen, Verdrängen, Verschweigen danach, das Unschuldigtun, die Opferrolle und das politisch gebilligte Fortleben alter Zustände in neuen Institutionen, das Fortleben alten Geistes und alltagsfaschistischen und rassistischen und antisemitischen Ungeistes in neuen Körpern - insbesondere wären aber auch ein Robert Schindel oder Erich Hackl zu nennen, Josef Haslinger, Doron Rabinovici, Elfriede Jelinek, Elisabeth Reichart, Alois Hotschnig, Marlene Streeruwitz, Peter Henisch, Margit Schreiner und viele, viele andere, denen ich, hielte ich diesen Vortrag, unrecht täte, indem ich sie nicht erwähne. Weiß der Teufel, warum ich keinen Platz für den großen Dramatiker Felix Mitterer gefunden habe. Oder für Wolfgang Bauer. Christoph Ransmayr, Anna Mitgutsch, Michael Guttenbrunner, Werner Kofler und, und und. Aber was geht mein Platzmangel Ihre Studenten an? Es ist nicht als Vorwurf gemeint, sondern eher als tragikomisches Faktum für die gesellschaftliche Wirkungslosigkeit und geradezu Irrelevanz von Literatur zu sehen, dass umso mehr und beklemmendere Aufarbeitungsliteratur erschien, ein desto kälterer, reaktionärer Wind durchs Land wehte. Umso lauter und eloquenter und dringlicher viele der genannten vor dem Aufstieg Jörg Haiders warnten, desto schneller ist er passiert. Dafür gibt es viele unterschiedliche und zum Teil jedenfalls nachvollziehbare innenpolitische Gründe, die im Ausland vielleicht nicht so klar gesehen werden können, dem internationalen Ansehen Österreichs hat Haider auf alle Fälle sehr geschadet.

Wie ich eingangs nicht Berlin, Frankfurt oder Wien, sondern Klagenfurt als Hauptstadt der deutschsprachigen Literatur genannt habe, so erlaube ich mir die abschließende Feststellung, dass auch politisch die heimliche Bundeshauptstadt Österreichs derzeit nicht Wien, sondern eben Klagenfurt ist, wo nicht nur ich, sondern auch der Landeshauptkrachmacher Jörg Haider seinen ordentlichen Wohnsitz hat. Heute diesen ganzen Themenkomplex und seine Implikationen für die Literatur vor Ihnen auszubreiten, würde entschieden zu weit führen. Wenn Österreich von bürgerkriegsähnlichen und diktatorischen Zuständen auch nach wie vor zum Glück sehr weit entfernt ist, so ist die rechtsstaatliche Situation und die Polarisierung der Bevölkerung jedenfalls bedenklich geworden, und bei dem Roman, an dem ich derzeit schreibe (und der auch der eigentliche Grund meiner Reise nach Salamanca ist), in dem nämlich Ihr Miguel de Unamuno und auch dessen Position zu Franco eine Rolle spielt, muß ich nolens volens oft an mein eigenes Land denken. Dazu morgen mehr, wenn ich wirklich zwar wieder keinen Vortrag, aber eine Werklesung aus diesem Romanfragment halten werde.

Ich danke für Ihre meine Absage betreffende Aufmerksamkeit und bitte um Verständnis.




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letzte Aktualisierung: 8. März 2004
actualizada: 8 de marzo de 2004